FREIE WELT
Le Bourget 73:
Mach 2,37
4 juniheft 1973
Erreicht Geschwindigkeiten bis über 2500 km/h: das erste Überschallpassagierflugzeug der Welt, die Tu-144
Kompliment für die fortschrittlichste Konstruktion im Zivilflugzeugbau: von McDonnell jr. (links), Direktor eines der größten Luft- und Raumfahrtunternehmen der USA, für den Chefkonstrukteur der Tu-144 Alexej Tupolew (Mitte)
Der „moustache* der Tu-144: der ausschwenkbare Vorflügel
Fachsimpelei zwischen Riegern: Besatzung der Tu-144 mit dem Locheed-Ingenieur Tom Huley (zweiter von links)
Aus dem Bordbuch der Tu-144: Eintragung von Sergej Sikorsky, Europa-Direktor des größten amerikanischen Hubschrauberproduzenten
Arbeiteten beim Uberschallprojekt zusammen: Alexej Tupolew, Flugerprobungsingenieur Wladimir Benderow und Testpilot Eduard Jeljan (von rechts)
Schubstark, raucharm und umweltfreundlich: die vier Strahlturbinen der Tu-144 entwickeln 70 000 Kilopond Schub
Von über einer Million Aero-Salon-Gästen besichtigt: Tupolews Tu-144 und Iljuschins IL-76, ein moderner Großraumfrachter
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Karl-Heinz Eyermann (Text) und Lothar Willmann (Bild) exklusiv für FREIE WELT
30. Aerosolon in Paris. Über 180 Flugzeuge und Hubschrauber aus 20 Staaten. Die UdSSR mit zehn neuen Aeroflot-Konstruktionen größter Aussteller der modernen zivilen Flugtechnik. Im Mittelpunkt dieser Schau: die Serienversion der Tu-144, von der bereits mehrere Maschinen die Montagehallen der Woronesher Flugzeugwerke verlassen haben. „Eine faszinierende Maschine, vergleichbar nur mit dem Modernsten auf dem Gebiet der Astronautik", so das Urteil der amerikanischen „Apollo-17" - Besatzung, als sie Testpilot Michail Koslow im Cockpit seiner Maschine (links, 2. v. r.) besuchten. Größter Anziehungspunkt von Le Bourget - übereinstimmende Expertenmeinung — die Tu-144, die bei ihrem letzten Demonstrationsflug zum Abschluß des Aerosalon von einem tragischen Unfall betroffen wurde.
„CCCP-77102“ war täglich von zehntausenden Besuchern des 30. Salon International de L'Aeronautique et de L'Espace in Paris-Le Bourget umlagert. Konstrukteure und Piloten aus vielen Ländern trugen in ihr Bordbuch Komplimente ein für die modernste Passagiermaschine, für das erste Überschall-Verkehrsflugzeug der Welt, für die Einhundertvierundvierzigste von Tupolew. 1965 hatte hier die UdSSR das Modell ihres Überschall-Verkehrsflugzeuges erstmalig ausgestellt. 1971 wurde der Prototyp der Tu-144 in Le Bourget vorgeführt. 1973 erschien eine Serienmaschine des „Flugzeuges von morgen", eine Tu-144 mit Aeroflot-Dekor und vollausgestatteten Passagierkabinen. In diese neue Tupolew mündeten die Experimente mit über 200 Windkanalmodellen, mit Hunderten Wasserstoffsorten, mit komplizierten automatischen Navigationssystemen und schließlich die Erkenntnisse eines umfassenden Testprogramms, bei denen die Erprobungsmaschinen Tausende von Stunden in der Luft waren. So konnten alle ursprünglich veranschlagten Leistungsparameter bei dem nun von der sowjetischen Zivilluftflotte fest bestellten Überschall-Transporter noch wesentlich überboten werden. Die projektierte Maximalgeschwindigkeit von 2500 km/h, so sagte uns der stellvertretende Hauptkonstrukteur Wladimir Benderow vor seinem Unfall, sei für das Serinenmuster nicht die äußerste Tempogrenze. Während der Erprobung wurden bereits höhere Geschwindigkeiten erzielt. Prof. Alexe] Tupolew, unter dessen Leitung das bisher kühnste Vorhaben der Verkehrsfliegerei steht, erklärte FREIE WELT: „Das 1973 in Le Bourget gezeigte Serienmodell unterscheidet sich von dem vor zwei Jahren hier vorgestellten Experimentalflugzeug durch eine Reihe von bedeutsamen konstruktiven Vervollkommnungen. Wesentlich verbessert haben wir die Start- und Landeeigenschaften durch eine neue Tragflächenmechanisierung und die Triebwerkwartung."
Wesentlicher Bestandteil der von Alexej Tupolew erwähnten Tragflächenmechanisierung ist ein ausschwenkbarer Vorflügel über dem Cockpit, der von den Franzosen seines Aussehens wegen „moustache" (Schnurrbart) getauft wurde. Der „moustache" sichert der Tu-144 ein geringes Aufsetztempo, über das ansonsten - nur Unterschall-Passagiermaschinen verfügen. Der Vorflügel ermöglicht zudem noch äußerst niedrige Langsamfluggeschwindigkeiten. Wie uns der stellvertretende sowjetische Luftfahrtindustrie - Minister Wassili Kasakow, Flugzeugbauer seit 36 Jahren, erläuterte, besitzt die Tu-144 keinen einzigen Widerpart unter allen modernen Unterschalltypen, der auch hernd in der Breite ihrer Geschwindigkeitsskala mit konkurrieren kann. Die Tempospanne der Tu-144 reicht von rund 230 km/h bis 2500 km/h. Die Startund Landerollstrecken dehnen sich nicht über 1900 Meter aus. Dadurch ist die Maschine in der Lage, selbst die Mehrzahl aller mittleren Verkehrsflughäfen anzusteuern.
Uns fiel auf, daß die Tu-144, die schon beim Prototyp mit ihren klaren und zweckmäßig schönen Konturen beeindruckte, in der Serienausführung durch weitere aerodynamische „Effekte“ und konstruktive Detailanderungen an technischer Feinheit gewann. Der Rumpf, um 6.30 Meter von 59.40 auf 65.70 Meter verlängert, wirkt schlanker. Der Abstand zwischen beiden kastenförmigen Triebwerkgondeln, die je ein Strahlturbinenpaar aufnehmen, ist vergrößert. Die Fluggast-Salons der Tu-144 empfingen uns mit neuer Ausstattung: geräumiger und bequemer als beim Versuchsmuster, mit wohlgetönten Farben, mit breiteren und dicker gepolsterten Sesseln, zwischen den Sitzreihen eine größere „Kniefreiheit“. Die Tu-144, im Anfangsstadium für 120 Passagiere vorgesehen, bietet jetzt bei noch besserem Komfort 140 Reisenden Platz. Und dieser Nutzlast-Zuwachs führte zu keiner Abnahme der Reichweite oder vermehrtem Kraftstoffverbrauch. Bei der „Concorde“ dagegen mußte die Transportkapazität zu den Ausgangsdaten von 128 auf 104 bis 98 Personen verringert werden, um den Atlantik nonstop überqueren zu können. Ein Trumpf der Tu-144 gegenüber der „Concorde“ ist ihre bessere Wirtschaftlichkeit: Beträgt das maximale Reisetempo des westeuropäischen Oberschall-Typs 2330 km/h (Mach 2.2). so befördert die Tu-144 mit einer um rund 170 km/h schnelleren Geschwindigkeit (Mach 2,37) 40 Passagiere mehr über dieselben Distanzen.
Und was man am Boden an der Serien - Tu an Neuem nicht bemerkte, das legte sie im Einsatz frei. Die im Unterschied zum Prototyp schubstärkeren Triebwerke sind noch leiser, rauchfreier und umweltfreundlicher geworden als bei den Versuchsmaschinen. Die vermehrte Rückstoßkraft der neuen Strahlturbinen verkürzt die Startstrecke weiter und verleiht der neuen Tu-144 eine höhere Steig- und Horizontalgeschwindigkeit trotz größerer Abflugmasse.
Unter 300 000 Zuschauern beobachteten wir am Sonnabend, dem 2. Juni, in Le Bourget das Aufeinandertreffen von „Concorde“ und Tu-144. Für die Fachleute entschied die Koslow-Besatzung das Vergleichsfliegen eindeutig zugunsten der sowjetischen Oberschall-Passagiermaschine. Die Prüfung in der Öffentlichkeit vor der Expertenwelt fiel diesmal noch klarer für die Tu-144 aus als auf dem Aerosalon 1971. Eher als die „Concorde“ 02 löste sich die seriengefertigte „CCCP-77102" von der Piste, kletterte schneller, flog geräuschärmer vorüber und schwebte langsamer zur Landung heran. Am nächsten Tag sollte zum Abschluß des Aerosalon die Tu-144 noch einmal mit den gleichen Manövern in der Luft vorgeführt werden. Doch diesen Flug konnte die Besatzung nicht mit einer glücklichen Landung abschließen. Sechs erfahrene Testflieger starben in der Kanzel ihrer Uberschaflmaschine.
Stunden vor dem tragischen Unglück sprachen wir noch mit der Besatzung. Sie war voller Optimismus. In einem über dreijährigen Testprogramm hatte sie diese Maschine mit erprobt und serienreif geflogen. Sie kannte ihre Tu genau, denn sie war deren Mitschöpfer. Gewissenhaft hatten sich die sechs Männer auch auf diesen Flug vorbereitet wie auf jeden anderen Start vorher, Routine zählte bei ihnen nicht Sie nahmen die letzte Demonstration in Le Bourget genau so ernst wie das erste Versuchsunternehmen mit einer völlig neuen Maschine.
Sie bildeten ein kleines Kollektiv mit großem Sachverstand, Wissen und fliegerischem Können. Der Kommandant dieser Besatzung hieß Michail Koslow, ein Testpilot der seit über einem Vierteljahrhundert das Steuer von Versuchsmaschinen führte. Viele schwierige Situationen hatte er gemeistert sein Mut und seine Einsatzbereitschaft wurden von der Regierung der UdSSR mit hohen Auszeichnungen gewürdigt: Held der Sowjetunion, Verdienter Versuchsflieger der UdSSR. Michail Koslow war ein zurückhaltender, bescheidener Flieger. Er wollte in Paris nie im Mittelpunkt stehen wie etwa sein Flugzeug.
Auf dem Sitz des Copiloten saß Waleri Moltschanow, ein junger Diplom-Ingenieur, der die sowjetische Testfliegerschule mit Bestnoten absolviert hatte, ein Talent, das seit fünf Jahren für Tupolew arbeitete und der seine große Bewährungsprobe auf der Tu-144 bestand. Hinter den beiden Pilotensesseln befand sich der Platz mit dem Schaltpult von Bordingenieur Anatoli Dralin, der schon lange im berühmtesten sowjetischen Flugzeugbau-Kollektiv arbeitete und bereits maßgeblich an der Erprobung des größten Propellerturbinen-Verkehrsflugzeuges, der Tu-114 „Rossija" beteiligt war.
Unterstützt wurden diese drei von Versuchsingenieur Boris Perwuchin, einem hochqualifizierten Konstrukteur, mit seinem perfekten Englisch auf dem Aerosalon als Dolmetscher begehrt, und von Georgi Bashenow, Chefnavigator der Zivilluftflotte der UdSSR. Bashenow kam als erster Aeroflotler in eine Uberschall-Mannschaft Er nahm an jedem Langstrecken- und Auslandsflug der Tu-144 teil und erfüllte wichtige Aufgaben bei der Linienerprobung der schnellsten Passagiermaschine. Und schließlich befand sich unter den Besatzungsmitgliedern Ingenieur-Generalmajor Wladimir Benderow, Alexej Tupolews Stellvertreter bei der Leitung des Oberschallflugzeug-Projektes und Flugerprobungs- Direktor.
Bei Redaktionsschluß waren die Ursachen des Unglücks noch nicht geklärt. Den Flugschreiber, der auf Filmen und Aufzeichnungsspulen jedes Manöver, jede Gerateanzeige, jeden Triebwerklauf, jedes an Bord gesprochene Wort festhalt fand man geöffnet mit unbrauchbarem Filmmaterial. Die Magnetbänder mit den Mitteilungen der Besatzung über die letzten Sekunden des Flugverlaufs befinden sich noch nicht in der Hand der Experten-Kommission. Französische Fachleute äußerten die Oberzeugung, daß die sechs sowjetischen Testflieger ihr Leben geopfert haben, um eine noch größere Katastrophe auszuschalten. Die Besatzung habe eine Notlandung auf dem von mehreren hunderttausend Menschen umsäumten Flugplatz Le Bourget vermieden und mit allen Kräften versucht, einen Absturz über einer Ortschaft zu verhindern.
Andre Turcat, „Concorde“- Chefpilot, sagte: «Der Geist der Luftfahrt verlangt, daß man mit dem Riegen fortfährt, auch wenn sich ein Unfall ereignet auch wenn Menschen sterben, die wir achten. Wir haben sie alle gekannt, besonders den Piloten Michail Koslow und den Flugdirektor Wladimir Benderow."
Die Geschichte der Luftfahrt kennt viele Beispiele, daß hervorragende Konstruktionen nicht vor Unfällen gefeit sind. Die modernste Technik ist nicht absolut gegen Unzulänglichkeiten, gegen das Versagen einzelner, oft winziger Bauteile geschützt trotz größter fliegerischer Erfahrung, trotz doppelter oder vierfacher Sicherheit der wichtigsten Konstruktionselemente. Ein Rückschlag also? Das tragische Unglück von Le Bourget wird den Bau der Tu-144 undden Oberschall-Luftverkehr nicht aufhalten können. Nach gründlicher Erforschung der Absturz-Ursache werden die serienmäßigen Uberschall-Tus weiterfliegen, zuerst mit Testpiloten, später mit Aeroflot-Besatzungen und dann mit Passagieren.
Unser nächster Beitrag vom 30. Pariser Aerosalon behandelt das wichtigste Kosmos-Unternehmen des Jahres 1975, den gemeinsamen Flug gekoppelter „Sojus“ - und „Apollo"-Raumschiffe. |